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Du gehst allein hin.

Du hast dich entschieden, allein zur Wohnung deiner Nachbar*innen zu gehen. Du gehst die Treppe hoch, drückst auf die Klingel und wartest. Du hörst schnelle Schritte, jemand dreht den Schlüssel im Schloss um. Ein Mann öffnet die Tür, er schaut dich an und runzelt die Stirn. Hinter seinem Rücken steht eine Frau und weint. Was machst du jetzt?*

„Man darf auf keinen Fall wegschauen“, sagt Asha Hedayati, Anwältin für Familienrecht in Berlin. „Wenn der Täter merkt, es wird weggeschaut, macht er weiter.“ Es sei für Betroffene wichtig, Unterstützung zu spüren. Denn Gewalt beginne oft mit Isolierung und Kontrolle. Die Täter (oder Täter*innen, denn nicht nur Männer üben häusliche Gewalt aus) versuchen, den Betroffenen jeglichen Kontakt zur Außenwelt zu verbieten. Zur Familie, zu Freund*innen. Nachbar*innen bleiben dann die einzigen, die Hilfe anbieten können.

Asha Hedayati

„Wenn der Täter merkt, es wird weggeschaut, macht er weiter.“

sagt Asha Hedayati (Anwältin für Familienrecht in Berlin)

Viele Nachbar*innen mischen sich nicht ein, weil sie glauben, häusliche Gewalt sei etwas Privates, sagt Hedayati. Sie hätten oft Angst, übergriffig zu sein, wenn sie zur Wohnung gehen und an der Tür klingeln. „Dabei ist es gut und wichtig, präsent zu sein. Das Problem besteht darin, dass Gewalt gegen Frauen meistens im Privaten stattfindet“, sagt Hedayati. „Aber es ist nicht privat, wenn jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner umgebracht wird.“

Der Landespräventionsrat Niedersachsen empfiehlt bei Verdacht auf häusliche Gewalt, zu den Nachbar*innen zu gehen und eine ganz alltägliche Frage zu stellen – zum Beispiel, ob sie Mehl oder Eier hätten. Das helfe dabei, akute Konfliktsituationen zu unterbrechen. Das funktioniere erstaunlich gut, weil die Frage in einer Gewaltsituation absurd sei, sagt Hannah Wachter, Koordinatorin bei StoP („Stadtteile ohne Partnergewalt“) in Hamburg. Sie nennt das eine „paradoxe Intervention“. Sie könne die Gewaltdynamik unterbrechen und helfen, die Situation zu deeskalieren. Danach müsse man versuchen, die betroffene Person aus der gefährlichen Situation zu befreien. Indem man zum Beispiel sagt, dass man gerade einen Kaffee aufgesetzt hat und die Frau fragt, ob sie ihn trinken möchte.

Eine „paradoxe Intervention“ könne den Täter aus dem Konzept bringen, sagt Hannah Wachter von „StOP“ in Hamburg

Du hast deine Nachbar*innen gefragt, ob sie Mehl haben. Die Frau will sofort in die Küche gehen und es dir bringen, aber der Mann greift  nach ihrem Arm und befiehlt ihr, zu bleiben. Er dreht sich zu dir und schaut dich mit rotem Gesicht an. „Was hast du hier verloren? Verschwinde!“, brüllt er. Du sagt, dass du Mehl für deinen Kuchen brauchst. „Wir haben kein Mehl!“, antwortet der Nachbar und schlägt die Tür vor deiner Nase zu.“*

„Die Entscheidung, an der Tür zu klingeln, kann einen auch in Gefahr bringen“, sagt Anna Krause (Name geändert), Telefonberaterin bei der „Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen“. Ungefähr 30 Prozent der Menschen, die ihre Beratungsstelle anrufen, seien Nachbar*innen, die häusliche Gewalt beobachtet haben. Sie empfiehlt ihnen nur im Ausnahmefall, alleine hinzugehen und an der Nachbarstür zu klingeln.

„Die Entscheidung, an der Tür zu klingeln, kann einen auch in Gefahr bringen.“

sagt Anna Krause (Name geändert), Telefonberaterin bei der „Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen“.

Was wäre passiert, wenn du dich anders entschieden hättest?

Hilfe bei häuslicher Gewalt

Notruf:
110
Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“:
08000 116 016
Telefonseelsorge:
0800 111 0111 oder 0800 111 0222
Betroffenentelefon des Weißen Rings:
116 006
Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen:
030 611 03 00
Frauenhaus der Frauenhilfe München:
089 354 830

*Szenen fiktiv