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Allgemein Reden

Du nimmst ein Video auf.

Du hast dich entschieden, zu filmen. Deine Nachbar*innen stehen auf der anderen Straßenseite vor ihrer Wohnungstür und streiten lautstark. Der Mann schubst die Frau gegen die Wand. Auf deinem Video erkennt man jedoch kaum etwas. Um das zuändern, musst du näher ran. Gehst du auf die anderen Straßenseite?*

Grundsätzlich gilt: Kommt es zu einer Strafanzeige, können Videos dabei helfen, den Tatvorwurf zu belegen. Sven Müller, Sprecher des Polizeipräsidiums München, sagt: „Handyaufnahmen können wertvolle Beweise sein, die auch in einem Strafverfahren als Beweismittel zugelassen sind.“

Trotzdem ist es nicht immer ratsam, sofort die Kamera zu zücken, wenn man das Gefühl hat, Zeug*in häuslicher Gewalt zu werden. „Kein Täter lässt sich gern filmen“, sagen Karin Meyer und Mareike Horvath, Mitarbeiterinnen des Sozialdienstes katholischer Frauen in München. Gute Filmaufnahmen entstünden oft nur in der Nähe zum Täter (selbstverständlich können nicht nur Männer zu Hause gewalttätig sein). Dabei steige jedoch die Gefahr, selbst angegriffen zu werden. 

„Kein Täter lässt sich gerne filmen.“

sagen Katrin Meyer und Mareike Horvath vom Sozialdienst katholischer Frauen München

Bemerkt der Täter, dass er gefilmt wird, könnte die Situation eskalieren. Müller von der Münchner Polizei rät, nur zu filmen, wenn man die Situation dadurch nicht verschärft und keine Gefahr für die eigene Sicherheit besteht.

Du hast den Streit mit deinem Handy gefilmt und wurdest dabei nicht bemerkt. Auf deinem Video ist eindeutig zu sehen, wie dein Nachbar seine Frau schubst. Wie gehst du jetzt mit dem Material um? Gibst du es der Polizei?*

Wie hilfreich die Handyaufnahmen sind, hängt davon ab, ob es überhaupt zu einer Anzeige kommt. „Strafanzeigen werden seltener erstattet, als viele annehmen“, sagt Asha Hedayati, Anwältin für Familienrecht in Berlin. Das Ermittlungsverfahren sei enorm belastend, immer wieder müssten die Betroffenen ihre Aussage wiederholen. „Diese permanente Auseinandersetzung mit der Gewalt ist sehr anstrengend“, sagt Hedayati. 

Die Anwältin rät, immer in Absprache mit den betroffenen Personen zu handeln. „Wenn man Material hat, sollte man es nicht ohne Einverständnis der Frau an die Polizei weiterreichen“, sagt sie. Denn die Konsequenzen der Entscheidung für eine Strafanzeige trage der oder die Betroffene. Sven Müller dagegen empfiehlt, das vorhandene Material so schnell wie möglich an die Polizei zu übergeben. Das könne bei den Ermittlungen helfen.

Karl-Nikolaus Peifer

„Rechtlich ist die Aufzeichnung dann erlaubt, wenn Sie das Material später der Betroffenen für die Rechtsdurchsetzung überlassen.“

sagt Prof. Karl-Nikolaus Peifer vom Institut für Medienrecht, Universität Köln

Eines sollte man mit den Aufnahmen auf keinen Fall tun: Sie ohne das Einverständnis der Betroffenen veröffentlichen, zum Beispiel auf Facebook. Eine Veröffentlichung verletzte das Persönlichkeitsrecht der gezeigten Personen, sagt Karl-Nikolaus Peifer, Professor am Institut für Medienrecht der Universität Köln. „Rechtlich ist die Aufzeichnung dann erlaubt, wenn Sie das Material später der Betroffenen für die Rechtsdurchsetzung überlassen.“


Was wäre passiert, wenn du dich anders entschieden hättest?

Hilfe bei häuslicher Gewalt

Hilfe bei häuslicher Gewalt

Notruf:
110
Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“:
08000 116 016
Telefonseelsorge:
0800 111 0111 oder 0800 111 0222
Betroffenentelefon des Weißen Rings:
116 006
Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen:
030 611 03 00
Frauenhaus der Frauenhilfe München:
089 354 830

* Die Szenen sind fiktiv, basieren aber auf den Schilderungen unserer Expert*innen.

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Allgemein

Du sprichst die Betroffene persönlich an.

Du hast dich entschieden, erst einmal abzuwarten. Die Schreie deiner Nachbarin sind verklungen, der Streit scheint – vorerst – vorbei. Du kennst die Frau nur vom Sehen, wenn sie dir mit ihren Einkäufen auf der Straße entgegenkommt. Meist grüßt ihr euch mit einem kurzen Nicken, manchmal bemerkt sie dich gar nicht, wirkt abwesend. Das nächste Mal, denkst du, spreche ich sie auf diesen Vorfall an.*

Es sei grundsätzlich eine Möglichkeit, nicht direkt einzugreifen und die betroffene Person allein in einer ruhigen Situation anzusprechen, finden Mareike Horvath und Karin Meyer. Sie arbeiten beim Sozialdienst katholischer Frauen in München. „Man kann schildern, was man wahrgenommen hat und sagen, dass man in Sorge ist.“ In so einer Situation sei es wichtig, Unterstützung anzubieten. Der Frau zu signalisieren, dass man nicht wegschaut. Dennoch sei es nicht immer die richtige Entscheidung abzuwarten. „Das kommt sicher auf die Schwere der Tätlichkeit an“, sagen Horvath und Meyer. „Hat man den Eindruck, es geht wirklich um das Leben der Frau, kann es schwerste Verletzungen oder ihren Tod zur Folge haben, wenn man sich nicht einmischt.“

„Steht die Polizei plötzlich vor der Tür, kann das Angst machen und sehr überraschend sein.“

sagt Hannah Wachter, Projektkoordinatorin „Stadtteile ohne Partnergewalt“ in Hamburg

Hannah Wachter ist Koordinatorin des Projekts „Stadtteile ohne Partnergewalt“ in Hamburg. Auch sie rät dazu, die betroffene Person persönlich anzusprechen – vorausgesetzt, sie befinde sich nicht in Lebensgefahr. Es sei wichtig, herauszufinden, ob sie überhaupt bereit wäre, Hilfe anzunehmen. Ein unangekündigter Polizeieinsatz könne eine Art Abwehrreflex auslösen, weil die Person ihre Familie oder ihren Partner oder ihre Partnerin schützen wolle. Es könnte auch sein, dass der oder die Betroffene sich überrumpelt fühlt und den Vorfall leugnet: „Steht die Polizei plötzlich vor der Tür, kann das Angst machen und sehr überraschend sein, wenn man sie selber nicht gerufen hat und das vielleicht auch gar nicht möchte“, erklärt Wachter. „Das kann dazu führen, dass Gewaltbetroffene erst mal sagen: ‚Nein, es ist alles in Ordnung.‘“Aber auch beim persönlichen Gespräch mit der betroffenen Person kann es passieren, dass die Person die Tat herunterzuspielen versucht.

Klingeln und nach Mehl fragen, das könnte den Täter (oder in selteneren Fällen die Täter*in) aus der Spur bringen, meint Hannah Wachter von „StOP“.

Zwei Tage, nachdem du beobachtet hast, wie dein Nachbar seine Frau angegriffenhat, triffst du sie zufällig an der Bushaltestelle. Du grüßt sie, lächelst und sagst: „Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Ich habe mitbekommen, was zwischen Ihnen und Ihrem Mann passiert ist. Brauchen Sie Hilfe?“ Deine Nachbarin wirkt verunsichert, weicht deinem Blick aus. Sie beginnt, den Vorfall zu verharmlosen, spricht von einer Ausnahme, von ihrem sonst so liebevollen Ehemann. Du bist erstaunt und gleichzeitig betroffen. Was machst du jetzt?*

Eva Wiedemann
Eva Wiedemann

„Hilfe in der akuten Gewaltsituation wäre für mich rückblickend das Beste gewesen.“

sagt Eva Wiedemann, Schauspielerin und jahrelang betroffen von häuslicher Gewalt

Das ist keine ungewöhnliche Reaktion, sagen Horvath und Meyer. Betroffene von häuslicher Gewalt hätten häufig Angst und würden sich meistens schämen. Davon sollte man sich aber auf keinen Fall abschrecken lassen. Auch wenn die Betroffene die Hilfe zunächst ablehnt, sollte man ihr zu verstehen geben, dass man auch in Zukunft ein offenes Ohr für sie hat. In solchen Fällen könne man selbst Adressen von Beratungsstellen vor Ort heraussuchen und ihr raten, Hilfe zu holen. So gibt man der Betroffenen Zeit nachzudenken. Und überlässt ihr die Entscheidung. 

Auch Wachter rät dranzubleiben. Vielen sei nicht bewusst, wie groß das psychische Leid der Betroffenen sei.  Man müsse Geduld haben. Den Kontakt suchen, wenn auch nur unter dem Vorwand, dass einem der Zucker ausgegangen sei. „Damit signalisiert man, dass man da ist. Dass es einem nicht egal ist.“ Viele bräuchten Zeit, um sich zu öffnen. 

Eva Wiedemann war selbst von häuslicher Gewalt betroffen. Ihr Ex-Partner hat sie geschlagen, einmal stand er vor Gericht, weil er ihr das Brustbein gebrochen hat. Ihre Nachbar*innen haben sie nicht darauf angesprochen. Erst Jahre nach dem Prozess meinte ein Nachbar: „Warum hast du denn nie etwas gesagt?“ Die 31-Jährige glaubt nicht, dass sie sich damals einem Unbekannten anvertraut hätte. „Ein paar Tage danach fühlt sich alles schon wieder nicht mehr so schlimm an. Man belügt sich als Betroffene ja selbst die ganze Zeit.“ Und dann sei da die Scham, aus der heraus man häufig nichts erzählen möchte. Wiedemann sagt: „Hilfe in der akuten Gewaltsituation wäre für mich rückblickend das Beste gewesen.“ Die betroffene Person persönlich anzusprechen sei immer besser als nichts zu tun.


Was wäre passiert, wenn du dich anders entschieden hättest?

Hilfe bei häuslicher Gewalt

Notruf:
110
Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“:
08000 116 016
Telefonseelsorge:
0800 111 0111 oder 0800 111 0222
Betroffenentelefon des Weißen Rings:
116 006
Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen:
030 611 03 00
Frauenhaus der Frauenhilfe München:
089 354 830

* Die Szenen sind fiktiv, basieren aber auf den Schilderungen unserer Expert*innen.

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Allgemein

Du gehst allein hin.

Du hast dich entschieden, allein zur Wohnung deiner Nachbar*innen zu gehen. Du gehst die Treppe hoch, drückst auf die Klingel und wartest. Du hörst schnelle Schritte, jemand dreht den Schlüssel im Schloss um. Ein Mann öffnet die Tür, er schaut dich an und runzelt die Stirn. Hinter seinem Rücken steht eine Frau und weint. Was machst du jetzt?*

„Man darf auf keinen Fall wegschauen“, sagt Asha Hedayati, Anwältin für Familienrecht in Berlin. „Wenn der Täter merkt, es wird weggeschaut, macht er weiter.“ Es sei für Betroffene wichtig, Unterstützung zu spüren. Denn Gewalt beginne oft mit Isolierung und Kontrolle. Die Täter (oder Täter*innen, denn nicht nur Männer üben häusliche Gewalt aus) versuchen, den Betroffenen jeglichen Kontakt zur Außenwelt zu verbieten. Zur Familie, zu Freund*innen. Nachbar*innen bleiben dann die einzigen, die Hilfe anbieten können.

Asha Hedayati

„Wenn der Täter merkt, es wird weggeschaut, macht er weiter.“

sagt Asha Hedayati (Anwältin für Familienrecht in Berlin)

Viele Nachbar*innen mischen sich nicht ein, weil sie glauben, häusliche Gewalt sei etwas Privates, sagt Hedayati. Sie hätten oft Angst, übergriffig zu sein, wenn sie zur Wohnung gehen und an der Tür klingeln. „Dabei ist es gut und wichtig, präsent zu sein. Das Problem besteht darin, dass Gewalt gegen Frauen meistens im Privaten stattfindet“, sagt Hedayati. „Aber es ist nicht privat, wenn jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner umgebracht wird.“

Der Landespräventionsrat Niedersachsen empfiehlt bei Verdacht auf häusliche Gewalt, zu den Nachbar*innen zu gehen und eine ganz alltägliche Frage zu stellen – zum Beispiel, ob sie Mehl oder Eier hätten. Das helfe dabei, akute Konfliktsituationen zu unterbrechen. Das funktioniere erstaunlich gut, weil die Frage in einer Gewaltsituation absurd sei, sagt Hannah Wachter, Koordinatorin bei StoP („Stadtteile ohne Partnergewalt“) in Hamburg. Sie nennt das eine „paradoxe Intervention“. Sie könne die Gewaltdynamik unterbrechen und helfen, die Situation zu deeskalieren. Danach müsse man versuchen, die betroffene Person aus der gefährlichen Situation zu befreien. Indem man zum Beispiel sagt, dass man gerade einen Kaffee aufgesetzt hat und die Frau fragt, ob sie ihn trinken möchte.

Eine „paradoxe Intervention“ könne den Täter aus dem Konzept bringen, sagt Hannah Wachter von „StOP“ in Hamburg

Du hast deine Nachbar*innen gefragt, ob sie Mehl haben. Die Frau will sofort in die Küche gehen und es dir bringen, aber der Mann greift  nach ihrem Arm und befiehlt ihr, zu bleiben. Er dreht sich zu dir und schaut dich mit rotem Gesicht an. „Was hast du hier verloren? Verschwinde!“, brüllt er. Du sagt, dass du Mehl für deinen Kuchen brauchst. „Wir haben kein Mehl!“, antwortet der Nachbar und schlägt die Tür vor deiner Nase zu.“*

„Die Entscheidung, an der Tür zu klingeln, kann einen auch in Gefahr bringen“, sagt Anna Krause (Name geändert), Telefonberaterin bei der „Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen“. Ungefähr 30 Prozent der Menschen, die ihre Beratungsstelle anrufen, seien Nachbar*innen, die häusliche Gewalt beobachtet haben. Sie empfiehlt ihnen nur im Ausnahmefall, alleine hinzugehen und an der Nachbarstür zu klingeln.

„Die Entscheidung, an der Tür zu klingeln, kann einen auch in Gefahr bringen.“

sagt Anna Krause (Name geändert), Telefonberaterin bei der „Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen“.

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0800 111 0111 oder 0800 111 0222
Betroffenentelefon des Weißen Rings:
116 006
Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen:
030 611 03 00
Frauenhaus der Frauenhilfe München:
089 354 830

*Szenen fiktiv

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Allgemein

Du gehst mit deinen Nachbar*innen zur Wohnung.

Du hast dich entschieden, mit deinen Nachbar*innen zu reden. Du klopfst und fragst, ob sie die Schreie auch gehört haben. Sie nicken und erzählen, dass sie die betroffene Frau gut kennen. Sie werde schon seit einigen Monaten von ihrem Mann bedroht. Ihr überlegt zusammen, was ihr dagegen tun könnt.*

Mit den Nachbar*innen über häusliche Gewalt zu sprechen, sei eine gute Idee, sagt Hannah Wachter, Koordinatorin bei „StoP“ („Stadtteile ohne Partnergewalt“) in Hamburg. Sie könnten mehr über die Situation wissen oder die betroffene Nachbarin persönlich kennen. „Eine aufmerksame Nachbarschaft kann viel verhindern“, sagt Wachter. „Dort kommt es zu viel weniger Gewalt, Mord und Mordversuchen.“

Asha Hedayati

„Isolierte Frauen sehen gar nicht mehr, dass ihnen Unrecht geschieht. Oft aber fassen sie Mut, sobald es einen vertrauensvollen Kontakt zu einer Nachbarin gibt.“

sagt Asha Hedayati, Anwältin für Familienrecht in Berlin

Wenn man Zeug*in von häuslicher Gewalt wird, sei es immer eine Möglichkeit, sich mit anderen zusammenzutun, glaubt Anna Krause (Name geändert). Sie ist Telefonberaterin bei der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen. Dabei sollte man sich aber beraten lassen.

Asha Hedayati ist Anwältin für Familienrecht in Berlin. Sie empfiehlt, Plakate mit der Nummer eines Hilfetelefons im Haus aufzuhängen oder einen Flyer in die Briefkästen des oder der Betroffenen und der Nachbar*innen zu werfen. „Isolierte Frauen sehen gar nicht mehr, dass ihnen Unrecht geschieht. Oft aber fassen sie Mut, sobald es einen vertrauensvollen Kontakt zu einer Nachbarin gibt“, erzählt die Anwältin. „Dann stellen sie fest: ‚Stimmt, das geht so nicht. Das darf der gar nicht tun‘.“

Mit den Nachbar*innen zur Wohnung zu gehen, sei besser als allein hinzugehen, sagt Sarah Gottschalk vom Deutschen Institut für Psychotraumatologie in Much bei Köln

Ihr entscheidet euch, zusammen zur Wohnung zu gehen. Ein Mann öffnet die Tür, hinter seinem Rücken steht eine Frau und weint. „Was wollt ihr?“, brüllt der Mann und ballt die Faust. Ihr versucht zu erklären, dass ihr Schreie gehört habt und fragen wolltet, ob alles in Ordnung sei. „Das geht euch einen Dreck an!“, schreit der Mann. Dann schlägt er die Tür vor deiner Nase zu.*

„Ich kann verstehen, wenn eine einzelne Person sich nicht traut, allein zur Wohnung zu gehen“, sagt Eva Wiedemann, die selbst von häuslicher Gewalt betroffen war. Stehen plötzlich mehrere Menschen vor seiner Tür, könnte der Täter sich provoziert fühlen (selbstverständlich sind nicht nur Männer zu Hause gewalttätig, doch meist ist das der Fall). Er könnte dann aggressiv reagieren. „Wenn sich acht Typen vor einer Haustür aufbauen, kann ich mir vorstellen, dass das kein gutes Ende nimmt“, sagt Wiedemann.

Eva Wiedemann
Eva Wiedemann

„Ich kann verstehen, wenn eine einzelne Person sich nicht traut hinzugehen und einzuschreiten.“

Eva Wiedemann, Schauspielerin und jahrelang betroffen von häuslicher Gewalt

Am besten sei es, zu zweit oder dritt zu den Nachbar*innen zu gehen, sagt Wiedemann. „Dann hat man notfalls Zeugen.“ Dabei dürfe man auf keinen Fall selbst aggressiv auftreten, finden Karin Meyer und Mareike Horvath, Mitarbeiterinnen des Frauenhauses vom Sozialdienst katholischer Frauen in München. Man solle lieber versuchen, die Situation zu beruhigen.


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* Die Szenen sind fiktiv, basieren aber auf den Schilderungen unserer Expert*innen.

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Allgemein Reden

Du rufst die Polizei.

Du hast dich entschieden, die Polizei zu rufen. Du wählst den Notruf, die 110. Das ist die erste Nummer, die dir einfällt. Du siehst das Paar streiten und sich anschreien. Während du wartest, dass jemand abhebt, fragst du dich, ob es richtig war, die Polizei zu rufen. Was ist, wenn es doch nur ein harmloser Streit ist? Jetzt hörst du eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Legst du auf oder sagst du etwas?*

In einer Gefahrensituation ist es immer sinnvoll, die 110 zu wählen, sagt Sven Müller, Sprecher des Polizeipräsidiums München. „Wenn ich Zeuge einer Straftat werde oder sehe, dass ein Mensch in Not geraten ist, weil er körperlich bedroht oder angegriffen wird, sollte ich immer sofort den Notruf wählen.“

Sven Müller

„Als Zeuge einer Straftat sollte man immer den Notruf wählen.“

sagt Sven Müller, Sprecher des Polizeipräsidiums München.

Wer den Notruf wählt, hilft anderen Menschen. Aber die Polizei zu rufen ist kein selbstloser Akt, sondern gesetzlich vorgeschrieben. Wenn man sie nicht ruft, kann man wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden. Wer nicht selbst anrufen will, kann das auch über Dritte tun, zum Beispiel über eine Beratungsstelle wie der „Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen“.

Sven Müller, Polizeisprecher in München, rät bei Auffälligkeiten immer dazu, die Polizei zu rufen.

Beobachter*innen müssen der Polizei am anderen Ende der Leitung den Vorfall schildern, wie sie ihn gesehen haben. Damit die Beamt*innen möglichst gut auf den Einsatz vorbereitet sind, ist es wichtig, den eigenen Namen und die genaue Adresse des Tatorts zu nennen, den Vorfall genau zu beschreiben und zu sagen, ob sich jemand verletzt hat. In dem Fall alarmiert die Polizei automatisch den Rettungsdienst. Mehr als seinen Namen muss man zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht angeben.

Eva Wiedemann
Eva Wiedemann

„Die Polizei zu rufen, ist auf alle Fälle der richtige Weg.“

sagt Eva Wiedemann, Schauspielerin und jahrelang betroffen von häuslicher Gewalt

Man sollte keine Hemmungen haben, die Polizei zu rufen, sagt Polizeisprecher Müller. Auch, wenn sich der Vorfall am Ende als harmlos herausstellt. „Wir sind froh, wenn Leute anrufen, weil sie glauben, dass etwas passiert.“ Die Sensibilität für Gewalt im häuslichen Umfeld sei in Deutschland zwar gestiegen, doch die Polizei rechnet mit einer hohen Dunkelziffer. 

Schauspielerin Eva Wiedemann war selbst jahrelang betroffen von häuslicher Gewalt; ihr ehemaliger Lebensgefährte hat sie geschlagen, und körperlich wie emotional kontrolliert. Heute sagt sie, dass sie sich damals gewünscht hat, jemand hätte die Polizei gerufen. „Das ist auf jeden Fall der richtige Weg.“ Ob er zielführend sei, wisse zwar niemand. Aber Hauptsache, man handelt.

Du hast den Notruf gewählt und der Polizei Bescheid gesagt. Der Beamte am Telefon hat dir zugesichert, dass seine Kolleg*innen vorbeikommen werden. Du legst auf. Das Paar streitet sich immer noch. Auf einmal packt der Mann die Frau am Arm. Du weißt nicht, ob du dazwischengehen sollst.* 

Man könne nicht pauschal zu sagen, ob es richtig ist, bei einem Konflikt einzugreifen, sagt Müller. Die oberste Priorität habe immer die eigene Sicherheit. In unserem Beispiel könnte die beobachtende Person rufen, wenn sie außen am Fenster steht. Greift der Beobachter oder die Beobachterin ein, sei es besser, die Betroffene anzusprechen als den Täter (oder die Täter*in – nicht nur Männer sind zu Hause gewalttätig). Dieser könnte aggressiv reagieren.

Wenn man eingreift, sollte man die*den Betroffene*n ansprechen, nicht den Täter, sagt Polizeisprecher Sven Müller.

Wenn die Polizei gekommen ist, wird sie versuchen, die Situation zu entschärfen. Bei einer Straftat nehmen die Beamt*innen Verdächtige fest, vernehmen Zeug*innen, und alarmieren, wenn nötig, die Kolleg*innen der Kriminalpolizei. Das komme darauf an, was passiert ist. Als Beobachter oder Beobachterin sollte man am Ort bleiben um als Zeuge oder Zeugin aussagen zu können und damit zur Aufklärung beizutragen.


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Hilfe bei häuslicher Gewalt

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* Die Szenen sind fiktiv, basieren aber auf den Schilderungen unserer Expert*innen.

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Über uns.

Reden oder schweigen? Manchmal eine schwierige Entscheidung – gerade, wenn es um ein vermeintliches Tabuthema geht. Mit unserem Digitalprojekt möchten wir Licht auf ein Problem werfen, mit dem jede*r von uns konfrontiert werden kann.

Wir sind die Klassen 58A und 58B der Deutschen Journalistenschule und wir möchten zeigen, welche Folgen „Reden“ und „Schweigen“ über häusliche Gewalt haben können.

Digitalteam der Klassen 58A und 58B: Ekaterina Astafeva, Cristina Plett, André Hörmeyer, Victoria Kunzmann

Videos: Erol Gurian, André Hörmeyer

Autor*innen: Julia Meidinger, Ekaterina Astafeva, Mitsuo Iwamoto, Christian Volk, Victoria Kunzmann

Großer Dank geht an: Peter Schink, Erol Gurian, Dirk von Gehlen, Luise Glum, Henriette Löwisch, Sven Szalewa, Alexander Gutsfeld

Parallel zu dieser Website entstand das „Klartext“-Wendeheft zu den Themen „Reden“ und „Schweigen“ der Klassen 58A und 58B.

Juni 2020 

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Allgemein

Du hast dich entschieden, zu schweigen.

Du hast dich entschieden, wegzuschauen und zu schweigen. Seit Wochen hörst du in der Wohnung deiner Nachbar*innen jemanden schreien, „Lass mich in Ruhe! Hör auf!“. Du denkst nach. Dann vergräbst du dich in deinem Bett und ziehst dir dein Kopfkissen über die Ohren. Du hoffst, dass du bald einschlafen kannst.*

Du hast dich falsch entschieden. „Wegschauen hat in keinem Fall positive Effekte“, sagen Mareike Horvath und Karin Meyer vom Sozialdienst katholischer Frauen in München. Natürlich müsse aber immer die jeweilige Situation bewertet werden. „Einige Beobachter haben Angst vor einem Racheakt des Täters“, erklären sie (oder der Täter*in, denn nicht nur Männer üben häusliche Gewalt aus). Andere würden denken, dass sich bestimmt jemand anderes um die Nachbarin kümmern wird. Das ist meist nicht der Fall: Durch Wegschauen erfahre in der Regel niemand von der häuslichen Gewalt, sagen Horvath und Meyer. „Die Lebensumstände des Betroffenen verbessern sich nicht und die Beobachter machen sich im schlimmsten Fall Vorwürfe, weil jemand verletzt wurde.“

Eva Wiedemann ist Schauspielerin und war selbst jahrelang Betroffene häuslicher Gewalt. Sie sagt, man dürfe sich als Beobachter*in nicht taubstellen.

Auch Sarah Gottschalk rät dringend dazu, nicht wegzuschauen, sondern die Polizei zu rufen: „Dann braucht man sich keine Vorwürfe zu machen und ist immer auf der sicheren Seite.“ Gottschalk leitet die Beratungsstelle für Gewalt- und Unfallopfer in Much bei Köln.

Die Beobachter*innen nähmen die Gewaltsituationen ganz unterschiedlich wahr, sagt Gottschalk. Viele wühle sie stark auf. Manche von ihnen würden emotional getriggert, wenn sie in der Vergangenheit Ähnliches erlebt hätten. „Es ist ein Ereignis, das außerhalb der Norm, außerhalb der gesellschaftlichen Realität ist. Insofern ist das immer erschütternd“, sagt Gottschalk. Vorwürfe, weil man geschwiegen hat, könnten solche Dynamiken noch einmal verstärken.

Am nächsten Tag triffst du deine Nachbarin im Treppenhaus. Sie hat eingekauft, schleppt die Taschen nach oben in den dritten Stock. Weil du Zeit hast, fragst du, ob du helfen kannst. Sie freut sich und drückt dir eine Tüte in die Hand. Dabei siehst du, dass ihr Auge unter der Sonnenbrille blau ist. Du erinnerst dich an die Geräusche, die du gehört hast und an das Kopfkissen, das du dir über die Ohren gezogen hast. Du schluckst kurz, läufst schneller, stellst die Tüten ab und verabschiedest dich mit: „Schönen Tag noch!“ Obwohl du genau weißt, dass ihr Tag niemals so werden wird wie deiner.*

Asha Hedayati

„Nachbarn sagen oft: Das ist etwas Privates. Ich möchte nicht übergriffig sein und klingeln oder die Polizei rufen.“

sagt Asha Hedayati, Anwältin für Familienrecht in Berlin

In Deutschland waren 2018 mehr als 140.000 Menschen von Partnerschaftsgewalt betroffen, knapp 115.000 davon sind weiblich. Das zeigt die kriminalistische Auswertung des Bundeskriminalamts zu Partnerschaftsgewalt. In den meisten Fällen handelte es sich um einfache Körperverletzung, in anderen um Bedrohung, Stalking oder gefährliche Körperverletzung. Die Zahl der registrierten Fälle steigt seit Jahren.

Diese Entwicklung ist für den Sprecher des Polizeipräsidiums München, Sven Müller, vor allem ein Zeichen dafür, dass die Sensibilität innerhalb der Gesellschaft gestiegen ist. Dass weniger geschwiegen wird. „Es gab Situationen, da hat man vor 20 Jahren nicht die Polizei gerufen“, sagt Müller, „jetzt macht man das – und das ist gut so.“

Asha Hedayati sieht das ähnlich. Sie ist Anwältin für Familienrecht in Berlin und vertritt viele Frauen, die häusliche Gewalt erfahren mussten. „Nachbarn sagen oft: Das ist etwas Privates. Ich möchte nicht übergriffig sein und klingeln oder die Polizei rufen“, erzählt Hedayati. Es sei jedoch das größte Problem, dass das Thema oft ins Private abrutsche. Deshalb sei es so wichtig, einzuschreiten. Zu reden.


Was wäre passiert, wenn du geredet hättest?

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