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Du hast dich entschieden, zu schweigen.

Du hast dich entschieden, wegzuschauen und zu schweigen. Seit Wochen hörst du in der Wohnung deiner Nachbar*innen jemanden schreien, „Lass mich in Ruhe! Hör auf!“. Du denkst nach. Dann vergräbst du dich in deinem Bett und ziehst dir dein Kopfkissen über die Ohren. Du hoffst, dass du bald einschlafen kannst.*

Du hast dich falsch entschieden. „Wegschauen hat in keinem Fall positive Effekte“, sagen Mareike Horvath und Karin Meyer vom Sozialdienst katholischer Frauen in München. Natürlich müsse aber immer die jeweilige Situation bewertet werden. „Einige Beobachter haben Angst vor einem Racheakt des Täters“, erklären sie (oder der Täter*in, denn nicht nur Männer üben häusliche Gewalt aus). Andere würden denken, dass sich bestimmt jemand anderes um die Nachbarin kümmern wird. Das ist meist nicht der Fall: Durch Wegschauen erfahre in der Regel niemand von der häuslichen Gewalt, sagen Horvath und Meyer. „Die Lebensumstände des Betroffenen verbessern sich nicht und die Beobachter machen sich im schlimmsten Fall Vorwürfe, weil jemand verletzt wurde.“

Eva Wiedemann ist Schauspielerin und war selbst jahrelang Betroffene häuslicher Gewalt. Sie sagt, man dürfe sich als Beobachter*in nicht taubstellen.

Auch Sarah Gottschalk rät dringend dazu, nicht wegzuschauen, sondern die Polizei zu rufen: „Dann braucht man sich keine Vorwürfe zu machen und ist immer auf der sicheren Seite.“ Gottschalk leitet die Beratungsstelle für Gewalt- und Unfallopfer in Much bei Köln.

Die Beobachter*innen nähmen die Gewaltsituationen ganz unterschiedlich wahr, sagt Gottschalk. Viele wühle sie stark auf. Manche von ihnen würden emotional getriggert, wenn sie in der Vergangenheit Ähnliches erlebt hätten. „Es ist ein Ereignis, das außerhalb der Norm, außerhalb der gesellschaftlichen Realität ist. Insofern ist das immer erschütternd“, sagt Gottschalk. Vorwürfe, weil man geschwiegen hat, könnten solche Dynamiken noch einmal verstärken.

Am nächsten Tag triffst du deine Nachbarin im Treppenhaus. Sie hat eingekauft, schleppt die Taschen nach oben in den dritten Stock. Weil du Zeit hast, fragst du, ob du helfen kannst. Sie freut sich und drückt dir eine Tüte in die Hand. Dabei siehst du, dass ihr Auge unter der Sonnenbrille blau ist. Du erinnerst dich an die Geräusche, die du gehört hast und an das Kopfkissen, das du dir über die Ohren gezogen hast. Du schluckst kurz, läufst schneller, stellst die Tüten ab und verabschiedest dich mit: „Schönen Tag noch!“ Obwohl du genau weißt, dass ihr Tag niemals so werden wird wie deiner.*

Asha Hedayati

„Nachbarn sagen oft: Das ist etwas Privates. Ich möchte nicht übergriffig sein und klingeln oder die Polizei rufen.“

sagt Asha Hedayati, Anwältin für Familienrecht in Berlin

In Deutschland waren 2018 mehr als 140.000 Menschen von Partnerschaftsgewalt betroffen, knapp 115.000 davon sind weiblich. Das zeigt die kriminalistische Auswertung des Bundeskriminalamts zu Partnerschaftsgewalt. In den meisten Fällen handelte es sich um einfache Körperverletzung, in anderen um Bedrohung, Stalking oder gefährliche Körperverletzung. Die Zahl der registrierten Fälle steigt seit Jahren.

Diese Entwicklung ist für den Sprecher des Polizeipräsidiums München, Sven Müller, vor allem ein Zeichen dafür, dass die Sensibilität innerhalb der Gesellschaft gestiegen ist. Dass weniger geschwiegen wird. „Es gab Situationen, da hat man vor 20 Jahren nicht die Polizei gerufen“, sagt Müller, „jetzt macht man das – und das ist gut so.“

Asha Hedayati sieht das ähnlich. Sie ist Anwältin für Familienrecht in Berlin und vertritt viele Frauen, die häusliche Gewalt erfahren mussten. „Nachbarn sagen oft: Das ist etwas Privates. Ich möchte nicht übergriffig sein und klingeln oder die Polizei rufen“, erzählt Hedayati. Es sei jedoch das größte Problem, dass das Thema oft ins Private abrutsche. Deshalb sei es so wichtig, einzuschreiten. Zu reden.


Was wäre passiert, wenn du geredet hättest?

Hilfe bei häuslicher Gewalt

Notruf:
110
Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“:
08000 116 016
Telefonseelsorge:
0800 111 0111 oder 0800 111 0222
Betroffenentelefon des Weißen Rings:
116 006
Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen:
030 611 03 00
Frauenhaus der Frauenhilfe München:
089 354 830

* Die Szenen sind fiktiv, basieren aber auf den Schilderungen unserer Expert*innen.